T. Schuler: Napoleon und die Schweiz

Cover
Titel
Napoleon und die Schweiz.


Autor(en)
Schuler, Thomas
Erschienen
Basel 2022: NZZ Libro
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andreas Fankhauser, Solothurn

Der Titel des ansprechend gestalteten und mit 43 Illustrationen versehenen Buchs weckt die Erwartung, umfassend über das Verhältnis einer der großen Gestalten der Weltgeschichte zum schweizerischen Kleinstaat informiert zu werden. Nach der Lektüre fragt man sich freilich, was von dieser Publikation zu halten ist. Der Band wirkt in sich nicht geschlossen, weil er einerseits aus Hauptabschnitten besteht, in denen der freiberufliche Historiker Thomas Schuler unter Verwendung der Berichte schweizerischer und französischer Zeitzeugen im Erzählstil der Mikrogeschichte bestimmte Ereignisse in allen Einzelheiten darstellt, andererseits aus solchen, in denen er in erster Linie Fakten resümiert. Die Anordnung der Kapitel erschwert vor allem im Helvetik-Teil die Sicht auf die großen Entwicklungslinien. An die vom Autor gewählte chronologische Erzählstruktur hält er sich nicht konsequent.

Dem einleitenden Abschnitt „Tuilerien, 10. August 1792“ folgt die Beschreibung der Reise von General Bonaparte durch die Schweiz im November 1797 „am Vorabend des [französischen] Überfalls“ (S. 13). Da sich sein Protagonist zwischen Mai 1798 und Oktober 1799 auf dem Mittelmeer und in Ägypten aufhält, fügt der Verfasser Kapitel über den „Goldraub von Bern“, das „Massaker von Stans“ und den Alpenfeldzug des russischen Generals Suworow von 1799 ein, in denen er vor dem Lesepublikum das von der konservativen schweizerischen Historiographie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gepflegte Helvetik-Narrativ ausbreitet. Am wichtigsten scheint ihm der Abwehrkampf der Nidwaldner Bevölkerung gegen die französischen Invasoren zu sein. Dieser Hauptabschnitt enthält nicht nur eine eingehende Erörterung des Wirkens und der Botschaft des Schweizer Nationalheiligen Niklaus von Flüe, sondern wird ergänzt durch den Abdruck der Gedenkrede von Peter von Matt aus dem Jahr 1998, worin der Germanist das grausame Geschehen vom 9. September 1798 sehr differenziert beurteilt. Weil den drei Textabschnitten über den Untergang der Alten Eidgenossenschaft und den Zweiten Koalitionskrieg so viel Eigengewicht zukommt, droht das Thema des Bandes aus dem Blickfeld zu geraten. Im Mai 1800 betritt Bonaparte wieder Schweizer Boden, was Schuler erlaubt, detailliert die Überquerung des Großen St. Bernhard durch die französische Reservearmee zu schildern. Auch der berühmte Rettungshund Barry hat hier seinen Auftritt. Im kurzen sechsten Kapitel „Die Helvetik“, das mit der Konstituierung der Helvetischen Republik 1798 beginnt, räumt der Autor ein, dass einiges von dem, was die Helvetik realisierte (wie zum Beispiel die Einführung des Schweizer Frankens) „überaus fortschrittlich“ war (S. 126). Den Hauptgrund für ihr Scheitern sieht er im zentralistischen Staatsapparat, der „im Widerspruch zu jahrhundertealten Traditionen und religiösen Gepflogenheiten stand“ (S. 132).

Da Thomas Schuler nur die traumatischen Erfahrungen Berns und der Innerschweiz und nicht auch die Waadtländer Freiheitsbewegung oder die Basler Nationalversammlung beschreibt, entsteht ein einseitiges Bild des Zeitabschnitts zwischen 1798 und 1803. Über die entscheidende Rolle von Frédéric-César de La Harpe bei der Umgestaltung der Eidgenossenschaft in eine französische Satellitenrepublik liest man nichts, ebenso keine Zeile über den Staatsstreichversuch des Waadtländers nach dem Vorbild des 18. Brumaire. Helvetiker wie Albrecht Rengger, Maurice Glayre oder Philipp Albert Stapfer, die versuchten, in Paris Freiraum für eine minimale Selbstbehauptung der Schweiz zu erwirken, finden keine Erwähnung. Die Vorgeschichte der Consulta von 1802/03 wird verkürzt wiedergegeben. Durch die Fokussierung auf militärische Ereignisse entgeht Schuler die vom Ersten Konsul 1801 entworfene Verfassung von Malmaison, welche in der Helvetischen Republik eine erbitterte politische Auseinandersetzung betreffend die Staatsform zwischen Unitariern und Föderalisten auslöste, die 1802 im „Stecklikrieg“ kulminierte und die Intervention Bonapartes bewirkte.

Bei der Darstellung der Mediationsperiode stehen – wie bei derjenigen des helvetischen Einheitsstaates – die Souveränitäts- und die Neutralitätsproblematik im Vordergrund. Eine analytische Beschäftigung mit der Materie erfolgt auch hier nicht. Dabei hätte es sich gelohnt, den Fragen nachzugehen, warum die Mediationsakte ihre Gültigkeit unverändert bis 1813 behielt und weshalb die Schweiz bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft als einziges republikanisches Staatswesen in Europa bestehen blieb. Nach dem Übergang zum Empire waren als Ansprechpartner Napoleons I. keine Revolutionäre mehr gefragt, sondern Magistraten des Ancien Régime wie der Freiburger Louis d’Affry oder der Berner Niklaus Rudolf von Wattenwyl, die zum unberechenbaren Alleinherrscher ein Vertrauensverhältnis aufzubauen vermochten. Über diese Beziehungen erfährt man im Buch nichts. Dass Napoleon 1806 dem vom badischen Hof verfolgten Projekt einer Angliederung des schweizerischen Staatenbundes als „Königreich Helvetien“ die Unterstützung versagte, führt der Verfasser einzig auf den zu erwartenden militärischen Widerstand der Schweizer zurück. „Die Eidgenossen, die… [1798/99] ihr Leben im Kampf gelassen haben, sind demzufolge nicht umsonst gestorben. Die heutige Schweiz verdankt ihnen nichts Geringeres als ihre staatliche Unabhängigkeit“ (S. 168). Der als Fremdkörper wirkende Abschnitt über den 1806 in Nürnberg auf Befehl des Diktators in Paris hingerichteten Buchhändler Palm (S. 169/170) ist wohl dem Umstand geschuldet, dass Schuler eine Zeitlang bei der Palm-Stiftung tätig war. Naheliegender wären einige Worte über Germaine de Staël gewesen, die zwar Palms Schicksal entging, aber ihre Opposition gegenüber dem französischen Autokraten mit Verbannung und Exil büßen musste. Der Einsatz der Schweizer Regimenter an der Beresina 1812 wird in epischer Breite gewürdigt, der Rezeptionsgeschichte des Beresina-Lieds ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Die erfolgreichen Bemühungen des Genfers Charles Pictet de Rochemont zur internationalen Anerkennung der immerwährenden Neutralität der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1815 werden hingegen übergangen. Thomas Schuler ist der Meinung, „dass die Grossmächte der Schweiz die Neutralität regelrecht aufzwangen“ (S. 221). Dem Waadtländer Benjamin Constant, der während der Hundert Tage noch zu Napoleon überwechselte und eine liberale Konstitution für Frankreich („La Benjamine“) redigierte, zieht der Verfasser den aus demselben Kanton stammenden Jean-Abram Noverraz vor, der den Kaiser der Franzosen als Kammerdiener nach St. Helena begleitete und 1821 zugegen war, als in Longwood House der Vorhang fiel. Die einen hohen Arsengehalt aufweisende Haarlocke des Verstorbenen, die Noverraz nach Lausanne mitbrachte, dient dem Autor als Aufhänger, um die umstrittene Giftmordthese zu vertreten.

Das Problem, dass sich die konkurrierenden Deutungsmuster der kontrovers beurteilten Zeitabschnitte zwischen 1798 und 1814 nicht in Einklang bringen lassen, versucht der Autor dadurch zu lösen, dass er das restaurative Geschichtsbild, das die von ihm herangezogene Literatur vermittelt, relativiert, indem er Aussagen von Vertretern der kritischen Forschung der letzten Jahre (Thomas Maissen, André Holenstein, Daniel Schläppi) in Form von Zitaten in den Text einstreut. Durch die kontrastive Darstellung entsteht jedoch kein ausgewogenes Werk. Arbeiten von Forscherinnen und Forschern aus der Westschweiz wie Danièle Tosato-Rigo, Victor Monnier oder Georges Andrey sucht man übrigens in der Bibliographie vergeblich. Schulers Hang zur Weitschweifigkeit treibt mitunter sonderbare Blüten, so etwa, wenn mit der Schlacht von Waterloo das Faktum verknüpft wird, dass der Ur-Ur-Urenkel von Feldmarschall Blücher als Anhänger der Transzendentalen Meditation für den Frieden in der Welt meditiert (S. 217–218). Negativ ins Gewicht fällt auch die mangelnde Sorgfalt des Verfassers bei der Erstellung des Manuskripts. Die vielen teilweise groben Schnitzer, von denen bloß drei herausgegriffen seien, deuten darauf hin, dass Thomas Schuler mit der Schweizer Geschichte des behandelten Zeitraums nicht vertraut ist und dass kein Fachlektorat stattgefunden hat. Das Haupt der Friedenspartei in Bern hieß Karl Albrecht von Frisching, nicht „von Frischling“ (S. 38 zweimal), Berns Wiedereinverleibungsversuche 1814/1815 betrafen nicht den Thurgau, sondern den Aargau (S. 148) und Bormio, Chiavenna und das Veltlin waren weder eidgenössische Untertanengebiete (S. 25) noch solche des Tessins (S. 224). Dem Anspruch, „die erste Gesamtdarstellung zu Napoleons Wirken in der Schweiz“ zu sein (Umschlagtext), vermag das Buch, das keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse liefert, nicht zu genügen.

Redaktion
Veröffentlicht am
05.06.2023
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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